Offener Brief mit Klarstellung
Liebe wildfremde dicke alte Dame in der Kirche bei der Familienfeier heute!

Nein, ich war nicht persönlich verletzt und betroffen, weil Sie gesagt haben, Sie seien doch fast so dick wie ich. Ich weiß, daß ich dick bin. Ich bin 'out' als dick, und habe sogar einen Fat-Acceptance-Blog. Ich zähle mich, so an der Peripherie, zu den weltweiten Aktivisten dieser Bewegung. Man wird zwar deutlich entmutigt, irgendwelche Vergleiche zwischen sich und anderen anzustellen, genauso wie es nicht okay ist, irgendjemandem, der sich als dick outet, zu widersprechen 'Aber du bist doch gar nicht dick!', aber das ist schon Fat Acceptance für Fortgeschrittene. Ich war nicht beleidigt. Wirklich nicht, Ich hätte gerne eine Weile mit Ihnen geredet, aber ich hatte überhaupt keine Zeit, und keine Ahnung, wo ich anfangen sollte.

Denn:

NEIN, es ist überhaupt nicht okay, wildfremde Leute einfach von hinten anzufassen und zwangszuknuddeln, auch wenn man in einer evangelischen Kirche der ganz betulichen Art ist, wo sich alle ganz furchtbar liebzuhaben haben. Wenn Sie an mir vorbeiwollen, um mit der Pfarrerin zu reden, dann sagen Sie 'Verzeihung' und gehen schnell vorbei, um den Aufenthalt innerhalb der unmittelbaren persönlichen Zone einer wildfremden Person (=meiner!!!) so kurz wie möglich zu halten. Keineswegs darf man besagte wildfremde Person zwangsknuddeln, in der Hoffnung, sie werde dann schon weniger vom Donner gerührt sein. Das ist massiv unangemessen, egal, wie dick oder dünn die Person ist.

Das hat gar nichts mit dick oder dünn zu tun. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: die wenigsten Dinge im Leben haben mit Dick oder Dünn zu tun. Wir haben dem bloß in den letzten paar Jahren die uuuuunglaubliche Bedeutung gegeben, deshalb soll es jetzt schon daran liegen, wenn man nicht von wildfremden alten Damen in Kirchen zwangsgeknuddelt werden will.

Tut es aber nicht.

Mit unfreundlichen Grüßen,
Xarminta

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sphingula04, Montag, 31. Januar 2011, 16:34
Ich finde die unfreundlichen Grüße aber ausgesprochen unfreundlich, der armen alten Dame gegenüber, die wahrscheinlich doch einfach nur fröhlich und umgänglich sein wollte!

Wer, bitte sehr, gibt denn vor, dass man, wenn man an Person X vorbei will, um mit der Pfarrerin zu reden, 'Verzeihung' zu sagen hat und schnell vorbei gehen muss, um den Aufenthalt innerhalb der unmittelbaren persönlichen Zone einer wildfremden Person so kurz wie möglich zu halten? Und ist es nicht schrecklich intolerant, da feste Vorgaben zu machen und deren strikte Einhaltung zu fordern, offenbar, 'weil man das eben so macht'?!?

Fat Acceptance hat etwas mit Acceptance zu tun, dachte ich, unfreundliche Grüße an arme alte Damen, die doch offenbar nur freundlich sein wollten und dann ganz betroffen waren, das ihr liebgemeinter Umgang und ihre unvoreingenommen auf die Leute zugehende Art am Ende schlecht angekommen sind, dabei wollten sie doch nur nett sein, richtig nett... das hat - für mich - hinreichend wenig mit Acceptance zu tun.

Schade, eigentlich.

Es gibt nämlich nicht nur dicke und dünne Menschen, oder Menschen, die Körperkontakt gar nicht mögen, sondern auch Menschen, denen es ein Bedürfnis ist, sich nicht nur mit Dingen zu befassen, sondern auch Dinge zu befassen, sie anzufassen, sie zu berühren. Menschen, die - auch - auf diese Weise kommunizieren.

Aber nein, da ist es dann "massiv unangemessen", in die "unmittelbare persönliche Zone" von seinen Mitmenschen einzudringen, diese gar von hinten anzufassen und "zwangszuknuddeln".

Ich glaube beim besten Willen nicht, dass von der dicken alten Dame da irgendeine sexuelle Konnotation hinter dem "Zwangsknuddeln" steckte, dann wäre Berührung wider Willen des Berührten sicherlich "massiv unangemessen". Aber grundsätzlich so - sorry - körperfeindlich zu sein und gar nicht berührt werden zu wollen, auch nicht von netten alten Damen, die man dann tiefbetrübt und erschüttert stehen lässt... das finde ich ausgesprochen schade und, wie gesagt, gar nicht Acceptance-mäßig, jawohl, ja!

xarminta, Montag, 31. Januar 2011, 20:57
Nein, sexualle Konnotationen sah ich darin auch nicht. Nur massive Grenzverletzungen. Sie merkte, dass sie wohl nicht so gut ankam, und wühlte sich dann immer tiefer in das Loch, das sie sich selbst gegraben hatte.

Ich hätte ja auch mit ihr geredet; es war bloß keine keine Zeit. Und, ähm, es gibt einen feinen Unterschied zwischen 'fröhlich auf die Menschen zugehen' und 'unvermittelt auf jemanden kommen wie der mythische Australische Drop-Bear'.

Es ist ja auch nicht ratsam, fremde Kinder einfach abzuknuddeln. Oder fremde Haustiere. Die muss man immer kommen lassen. Die Schweinderl würden sich doch zu Tode fürchten, wenn man sie einfach aus dem Käfig pflückt und krault, oder? Und pubertäre Kinder mögen es gar nicht, wenn ihre Mütter sie einfach an der Nase packen und ihnen die Pickel ausquetschen. Es war die Art Grenzverletzung.

Der Punkt war aber, sie verstand nicht, was mich störte. Sie dachte, ich sei beleidigt, weil sie gesagt hat, ich sei dick. Das weiß ich aber selber! Ich hätte ihr also erst erklären müssen 'Nein, das stört mich nicht, weil...' und dann, 'Aber mich stört, dass...', wie ich es halt in dem Post getan habe.

Bis dann wärt ihr aber schon mit der Kürbissuppe fertig gewesen!

sphingula04, Montag, 31. Januar 2011, 22:16
Na ja, im Prinzip wären es zwei Sätze gewesen, von wegen "es geht ja gar nicht ums Dicke, ich lass mich nur nicht gerne anfassen!" (Bis dahin wäre die Kürbissuppe noch nicht einmal warm gewesen. *grins*)

Allerdings hätte die arme Dame bestimmt auch nicht verstanden, warum Du nicht bzw. nicht von ihr angefasst werden wolltest, weil SIE es im umgekehrten Fall als total normal empfunden hätte, wenn Du Dich an ihr so vorbei gedrückt hättest - für sie wäre es eben KEINE Grenzverletzung gewesen. Schlicht, weil Ihr nicht dieselben Grenzen habt.

Und sie wäre bestimmt auch geknickt gewesen, dass das, was für sie total normal und lieb war, für Dich eine üble Grenzverletzung war.

Das mit den Müttern, die ihren Teenagern die Pickel ausdrücken, ist da nicht vergleichbar - ich glaube, manche Mütter empfinden auch ihre Teenager-Kinder noch nicht als selbständige Individuen, sondern eher als "Verlängerung des eigenen Körpers", und da drückt man halt. *grusel*

Die arme alte Dame sah Dich aber gar nicht als Verlängerung ihres eigenen Körpers, sondern einfach als netten Mitmenschen... :-/

xarminta, Montag, 31. Januar 2011, 22:24
Ich bin vielleicht nicht immer ein netter Mitmensch, und bin auch nicht total berührungsphobisch, aber knuddle doch lieber nur Leute, die ich habe kommen sehen...

midori, Dienstag, 1. Februar 2011, 17:50
Also mir ist es persönlich *sehr* unangenehm von absolut fremden Personen berührt zu werden und wenn dann z.B. jemand mein Haar anfaßte und "Ach, Sie haben ja auch so schönes langes Haar" sagen würde, oder wenn jemand auch nur den gleichen Pulli anhätte oder die Weichheit des Materials preisen würde, dann wäre ich trotz allen guten Willens not amused, ganz im Gegenteil. Es gibt diese Betatsch-Leute, die einen im Gespräch auch immer berühren wollen/müssen, aber ich halte gerne Abstand, denn ich mag das nicht und ich mache das auch nicht.
Und jetzt der Clou: ich bin nichtmal dick*! Ha!

*Und muß ich erklären, warum ich hier gerne lese, ja innerlich jubele, daß die fat acceptance hier endlich ankommt? Weil ich gegen Lügen bin, gegen Gehirnwäsche, gegen Diäten, gegen Waagen, gegen Fettverbrennungspulse, gegen Märchen vom Glück, das kommt, wenn man dünn ist, gegen all diesen Mist, der zu meinem eingebrannten Selbsthass geführt hat, weil ich nicht dünn bin

sphingula04, Mittwoch, 2. Februar 2011, 14:47
Ich sag ja auch gar nicht, dass es ultimativ ist und man sich von wildfremden Personen nach deren Vorstellungen / Bedürfnissen berühren und "zwangsknuddeln" lassen muss - aber ich denke einfach, man kann aus dieser Situation auch anders (und freundlicher, man könnte auch sagen: verbindlicher) raus, als der "übergriffigen" armen alten Dame quasi direkt mit dem Blanken ins Gesicht zu hüpfen, die nicht weiß, wie ihr geschieht, und komplett verdattert da steht.

midori, Mittwoch, 2. Februar 2011, 14:54
Nunja, ich denke, wenn einem gerade danach ist, kann man für alles mögliche Verständnis aufbringen, aber ehrlich gesagt gehöre ich nicht zu der Sorte Mensch, die das immer tut bzw. tun will. Grenzüberschreitung ist Grenzüberschreitung - warum sollen die anderen das nicht als direkte Rückmeldung bekommen, statt sie im Glauben zu lassen, ihr Verhalten sei angemessen und akzeptabel. Da gibt es natürlich auch noch Nuance von "der Ton macht die Musik", aber das hängt ja auch stark von der eigenen Stimmung und Befindlichkeit ab.
Die letzten zwei Tage habe ich z.B. im Sportstudio erlebt, daß sich Damen in der Umkleide genau in die Ecke drängen mußten, wo ich gerade meine zahlreichen Sachen sortierte, obwohl an anderen Stellen genug Platz und Spinde frei waren, um sich dort umzuziehen, wo niemand gestört wurde. Da sage ich auf die Frage "Geht das?" nicht freudig "jaja, ist alles bestens", sondern knurre dann genervt "Muß ja", weil ich gerade mein Schloß nicht finde, Hunger habe und mich außerdem belästigt fühle etc....

sphingula04, Mittwoch, 2. Februar 2011, 21:45
...man kann für alles mögliche Verständnis aufbringen, aber manchmal will ich das einfach nicht? Und wenn andere mal einen Tag keine Lust auf Fat Acceptance haben - dann ist das doch aber auch nicht okay, oder..?

Wenn die Dame im Sportstudio einen in die Ecke drängt und fragt "Geht das?", dann kann man doch aber auch seine schlechte Laune da lassen, wo sie hingehört (bäh, ich habe Hunfer und finde mein Schloss nicht! - aber dafür kann die andere Dame ja nu auch nichts), und statt genervt "muss ja" zurück zu knurren, kann man selbige Dame ja auch freudig anstrahlen und Verständnis heischend zurückfragen, ob das nicht doch ein bisserl eng wird... wenn man Leute einfach anstrahlt, entwaffnet das wirklich die meisten, und man macht sich (und anderen) meistens das Leben einfacher - ist zumindest meine Erfahrung meiner letzten 3,5 Jahrzehnte. :-)

xarminta, Mittwoch, 2. Februar 2011, 22:31
Keine Lust auf Fat Acceptance (oder jede andere Art von Nicht-Diskriminierung unterprivilegierter Gruppen) zu haben, ist die Norm.

Die meisten Leute wissen nicht mal, was das ist.

Es macht einen manchmal einfach stinkwütend, und dann funktioniert das mit dem 'freudig anstrahlen' nicht mehr.

Ein Teil von Diskriminierung ist es, denen, die diskriminiert werden, keinen Raum zu geben bzw. den Raum, den sie haben können, zu begrenzen. Niemand ist freiwillig immer nur im hinteren Teil des Busses, oder auf Bahnhofsklos. Ein wichtiger Teil des ursprünglichen, 'klassischen' Feminismus war es, in Bereiche vorzudringen, die einer 'anständigen Frau' bis dahin verschlossen waren, von Wahllokalen über Nachtclubs bis hin zu den Konferenztischen in Vorstandsetagen. Niemand, der Privilegien hat, sagt einfach nur 'Oh, tut mir leid' und macht Platz. Er fährt Argumente auf, warum ihm das Privileg und der damit verbundene (Frei-)Raum zusteht und es sich nicht gehört, dass Mitglieder der unterprivilegierten Gruppe daran teilhaben.

Wenn man dann irgendwann wütend wird und mit den Privilegieninhabern auf individueller Basis keine Geduld mehr hat, ist das vielleicht nicht immer zielführend, aber verständlich?

Zugegebenermaßen war in dem aktuellen Fall die alte Dame wohl genauso unterprivilegiert wie ich. Aber sich selbst Raum zu nehmen und den der unterprivilegierten Gruppe nicht zu respektieren, ist Teil der Diskriminierung. Wer das lange gewöhnt war und sich nun anfängt zu wehren, reagiert schon mal ärgerlicher, als in dem speziellen Fall der Sache nach vielleicht angemessen ist.

sphingula04, Donnerstag, 3. Februar 2011, 14:36
Nur zwei kurze Bemerkungen dazu:

Umarme Deine Feinde, bis sie sich ergeben. (Quasi eine Variante von meinem "freudigst anstrahlen". *grins*)

Und: Druck erzeugt Gegendruck.

Klar ist es verständlich, irgendwann mal keine Geduld mehr zu haben - aber es ist eben NICHT zielführend. Sondern eher kontraproduktiv.

xarminta, Donnerstag, 3. Februar 2011, 21:31
Das ist mir alles ein bisschen zu gandhi...

sphingula04, Freitag, 4. Februar 2011, 11:04
Dann drück es halt anders aus - mach eine win-win-Situation daraus!

Strahl die Leute an, das hebt Deine eigene Laune (jedenfalls mehr als genervtes Rumknurren und Mit-dem-Blanken-ins-Gesicht-springen), angestrahlt haben die ganzen bösen Privilegien-Inhaber ebenfalls bessere Laune als angeknurrt und angesprungen, und - so ganz nebenbei - ist es in Deinem eigenen Interesse schlicht produktiver und zielführender. Klarer Fall von win-win-Situation also, wenn Du schon den armen Gandhi nicht magst. :-)

xarminta, Freitag, 4. Februar 2011, 13:50
Um irgendwo weiterzukommen, brauchst Du immer den freundlich-konstruktiven und den ärgerlich-destruktiven Part. Du musst alte Ideen zerstören, um dann neue vorschlagen zu können, und Du mußt denen, die von den alten Ideen bislang selbstverständlich profitiert haben (den Privilegieninhabern) irgendwie klarmachen, dass hier Schluss mit lustig ist.

Destruktiv muss natürlich nicht mit Knüppeln und Gebrüll sein, aber der Teil mit 'Wir dachten bisher, es geht nur so, aber das ist alles Mist, weil a), b), und c), und gehört deshalb weg' ist nötig, bevor man kontruktiv neue Dinge vorschlagen kann. Und 'das ist alles Mist' ruft immer Widerstand bei den Privilegieninhabern hervor, weil es ihren Pfründen an den Kragen geht und von ihnen (was noch viel schlimmer ist!) verlangt wird, dass sie ihren Gehirninhalt mal in Bewegung setzen. Win-win geht nicht immer; vor allen Dingen nicht dann, wenn irgendwelche Leute irgendwo Proifte und Privilegien verlieren würden.

Meine thematische Tarot-Karte ist schon, seit ausgesprochen langer Zeit, der Turm.-